Der verborgene Pakt – Warum man den Fall Jeffrey Epstein nur versteht, wenn man das erste Verfahren von 2007 rekonstruiert und wie Ghislaine Maxwell jetzt davon profitieren will

VonRainer Hofmann

Juli 26, 2025

(Lesezeit cirka 15 Minuten ohne Unterlagen)

Wer den Fall Jeffrey Epstein verstehen will, wer begreifen will, wie ein Mann mit Dutzenden Zeugenaussagen gegen sich, mit Polizeifotos, DNA-Spuren, Opferlisten und Durchsuchungsbefunden dennoch einem Bundesprozess entkommen konnte, muss an den Anfang gehen. Nicht nach Manhattan 2019. Nicht in die Zelle, in der er starb. Sondern zurück nach Florida. Ins Jahr 2007. In jenes erste Verfahren, das heute wie ein Lehrbuchfall für institutionelles Versagen, politische Einflussnahme und strukturellen Opferschutzbruch steht. Und das wir in allen Einzelheiten rekonstruiert haben. Denn nichts an diesem Deal war zwangsläufig. Nichts an diesem Abkommen war juristisch notwendig. Es war das Ergebnis eines Machtgefüges, das sich dem öffentlichen Zugriff entzog. Wir haben interne Memos, Korrespondenzen, Anklageentwürfe, Zeugenvermerke und die Originalfassungen der Vergleichsdokumente ausgewertet. Wer sich die Frage stellt, warum Epstein so lange frei blieb, findet die Antwort nicht in New York, sondern in Miami. Im Mai 2006 übernimmt die Bundesstaatsanwaltschaft den Fall. Bereits Monate zuvor hatte die Polizei in Palm Beach das Epstein-Anwesen durchsucht und Hinweise auf systematischen Missbrauch minderjähriger Mädchen gefunden: Terminbücher, Massagetische, Überwachungstechnik, Hundert-Dollar-Scheine in den Schubladen. Als Marie Villafaña, Assistant U.S. Attorney im Southern District of Florida, die Akte prüft, empfiehlt sie eine Bundesanklage. In internen E-Mails warnt sie vor der „vernetzten Struktur“, mit der Epstein junge Mädchen aus prekären Verhältnissen gezielt anwerben ließ.

Jeffrey Epstein, Ghislaine Maxwell


Doch bereits im Herbst 2006 beginnen Epsteins Anwälte, das Verfahren zu unterlaufen. Sie vereinbaren informelle Gespräche mit leitenden Staatsanwälten, besuchen Alexander Acosta, den Chef des USAO, privat in seinem Büro. Namen wie Kenneth Starr, Jay Lefkowitz, Roy Black oder Alan Dershowitz tauchen in den Besucherlisten auf. Die Gesprächsanfragen sind drängend. Die Verteidigung fordert, dass keine Bundesanklage erhoben wird. Als dies nicht sofort gelingt, bringen sie neue Bedingungen ins Spiel: eine staatsrechtliche Lösung, die strafrechtliche Immunität für Epstein und seine Umgebung sowie eine vollständige Vertraulichkeit. In dieser Phase verschwindet ein zentraler Beweis: ein Computer mit Epsteins Terminlisten, Mails und Fotos. Die Polizei hatte ihn bei einem ersten Anlauf noch vor Ausstellung eines Durchsuchungsbefehls nicht sichern können. Als Villafaña im Frühjahr 2007 versucht, einen neuen Durchsuchungsbefehl zu erwirken, verweigert das Justizministerium die Unterstützung. Die Verteidigung bestreitet, dass der Computer existiert oder Beweise enthält. Niemand dringt weiter darauf.

Am 1. Juni 2007 schlägt die Bundesstaatsanwaltschaft einen Vergleich vor: Zwei Jahre Haft im Staatsgefängnis, Schuldbekenntnis zu staatsrechtlichen Anklagepunkten, Registrierung als Sexualstraftäter. Die Verteidigung lehnt ab. Am 26. Juli präsentiert Acosta in einem internen Treffen die entscheidenden Eckpunkte: keine Bundesanklage. Zwei Jahre Haft im Staat Florida. Keine öffentliche Information über den Deal. Kein Wort an die Opfer. Was folgt, ist ein juristisches Abrüstungsprogramm. Die Haftdauer wird ohne schriftliche Begründung auf 20 Monate, dann auf 18 Monate reduziert. Eine interne Mail von Jeffrey Sloman, Acostas Stellvertreter, dokumentiert die Entwicklung: „Epstein will 20 Monate akzeptieren.“ Dann: „Wir arbeiten an einer Lösung, die 18 Monate erlaubt.“ Wer den Vorschlag machte, bleibt unklar. Ein Memo gibt es nicht. Eine Entscheidungsvorlage ebenfalls nicht. Parallel verlangt die Verteidigung Immunität für weitere Personen. In den Vergleichstext wird eine Klausel aufgenommen, wonach die Regierung „keine strafrechtliche Verfolgung gegen potenzielle Mitverschwörer einleiten“ werde. Damit sind konkret gemeint: Ghislaine Maxwell, Sarah Kellen, Lesley Groff, Adriana Ross, Nadia Marcinkova. Alle tauchen in den Ermittlungsakten auf. Keine wird je angeklagt – bis viele Jahre später.

Marie Villafaña

Ein weiteres Element: Die Opfer werden bewusst nicht informiert. Villafaña protestiert, verweist auf den Crime Victims’ Rights Act (CVRA), der eine Unterrichtung der Betroffenen bei wesentlichen Entscheidungen vorschreibt. Ihre Hinweise werden ignoriert. Interne E-Mails zeigen, dass Sloman sie anweist, von einer Kontaktaufnahme abzusehen. „Kein Risiko eingehen“, heißt es. Man wolle den Deal nicht gefährden. Am 24. September 2007 wird das Non-Prosecution Agreement unterzeichnet. Er wird später nicht in ein Bundesgefängnis überstellt, sondern in das Palm Beach County Jail. Dort erhält er nach wenigen Tagen Freigang: 12 Stunden täglich darf er sein Büro aufsuchen, von montags bis sonntags. Besucherprotokolle zeigen, dass ihn dort mehrfach junge Frauen treffen. Niemand greift ein. Die Öffentlichkeit erfährt von alldem nichts. Das gesamte Abkommen bleibt geheim. Erst 2010 taucht es in Teilen auf. Erst 2018 wird es durch Gerichtsentscheid offengelegt. Erst 2019 beginnt die politische Aufarbeitung. Zu diesem Zeitpunkt ist Epstein wieder verhaftet – und stirbt im Gefängnis.

Doch die juristische Wirkung des Deals bleibt. Denn die Klausel zur Nichtverfolgung wurde so formuliert, dass unklar blieb, ob sie auch andere Bezirksstaatsanwaltschaften bindet. Als die USAO im Southern District of New York 2019 erneut Anklage erhebt, lässt sie monatelang prüfen, ob das alte NPA sie einschränkt. Erst nach Epsteins Tod heißt es, man fühle sich nicht daran gebunden. In der Zwischenzeit haben Opfer geklagt, reichten Klage gegen die Regierung ein. Ein Bundesgericht erkennt 2019 an, dass ihre Rechte verletzt wurden – aber eine Rückgängigmachung des Deals ist juristisch kaum möglich. Es fehlt ein Hebel. Jane Doe 1 ist heute identifiziert als Courtney Wild. Jane Doe 2 wurde offiziell nie in den Gerichtsunterlagen benannt, doch mehrere glaubwürdige Recherchen legen nahe, dass es sich dabei um eine Frau handelt, die ihren Namen weiterhin aus Angst vor Repressalien nicht öffentlich gemacht hat. Ein Bundesgericht gab ihr 2019 recht – doch weil Epstein inzwischen tot war, konnte das Abkommen juristisch nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Alexander Acosta

Alexander Acosta, inzwischen Arbeitsminister unter Donald Trump, gerät 2019 unter Druck. Er verteidigt sein Vorgehen – mit dem Argument, er habe das Beste herausgeholt. Der Druck wird zu groß. Er tritt zurück. Doch eine umfassende Aufarbeitung findet nicht statt. Sie stehen nicht im Rampenlicht, doch ihre Namen sind im Non-Prosecution Agreement mit Jeffrey Epstein explizit genannt: Sarah Kellen, Adriana Ross, Lesley Groff und Nadia Marcinkova. Vier Frauen, die laut Ermittlungsunterlagen, Zeugenaussagen und Recherchen eine zentrale Rolle im Netzwerk des verurteilten Sexualstraftäters spielten – und die bis heute von einer Immunitätszusage profitieren, die viele Jurist:innen als Schande für die US-Justiz bezeichnen. Sarah Kellen, inzwischen unter dem Namen Sarah Kellen Vickers bekannt, galt jahrelang als Epsteins Assistentin, Koordinatorin und Schattenfigur. „Wie er es mag“ – so soll sie mehreren Zeuginnen zufolge die minderjährigen Mädchen vor ihrem ersten Termin mit Epstein eingewiesen haben. Sie buchte Flüge, wählte Zimmer, organisierte Massagen, und war nicht selten im Raum, wenn der Missbrauch geschah. Trotz dieser Aussagen, trotz der mehrfachen Nennung in Klagen, wurde sie nie angeklagt. Stattdessen heiratete sie den NASCAR-Fahrer Brian Vickers und lebt heute ein ruhiges Leben in den USA. Der Schutz, den ihr das Non-Prosecution Agreement vom 24. September 2007 gewährt, wirkt bis heute. Adriana Ross, ein ehemaliges Model aus Polen, arbeitete in Epsteins Anwesen in Palm Beach. Ihre Rolle: Organisation von Massageterminen. Ihre Aufgabe, laut FBI: die systematische Löschung elektronischer Dateien, als die Ermittlungen begannen. Auch sie wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Ross, die sich seit Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, lebt heute vermutlich in Europa. Lesley Groff war Epsteins langjährige Assistentin in New York, verantwortlich für seinen Kalender, seine Kontakte, seine Geldflüsse. Sie koordinierte Flüge, sprach mit potenziellen „Masseurinnen“, zahlte aus – und wurde von Epstein laut interner Aussagen beinahe wie ein Familienmitglied behandelt. Auch sie wurde nie angeklagt, obwohl sie in mehreren Zivilklagen 2020 als Mittäterin genannt wurde. Und dann ist da Nadia Marcinkova, von Epstein selbst als „seine sexuelle Sklavin“ bezeichnet. Wahrscheinlich stammt sie aus der Slowakei; mit seiner Hilfe wurde sie eingebürgert. Sie wurde, so berichten es mehrere Opfer, als Minderjährige nach Florida gebracht, nahm später selbst aktiv an Missbrauchshandlungen teil. Die US-Ermittlungsbehörden stuften sie teils als Opfer, teils als Täterin ein. Auch sie wurde nie angeklagt. Heute arbeitet sie offenbar als Fluglotsin in Florida – unter dem Namen Nadia Marcinko.


Dass all diese Frauen durch ein geheimes Bundesabkommen vor Strafverfolgung geschützt wurden, löste in der juristischen und öffentlichen Debatte bis heute Fassungslosigkeit aus. Das Non-Prosecution Agreement band nicht nur die Hände der Ermittler, sondern wurde auch den Opfern nie mitgeteilt. Die Immunität für Kellen, Ross, Groff und Marcinkova bleibt ein Symbol für die jahrzehntelange Ungleichbehandlung im amerikanischen Rechtssystem: Macht, Geld und Einfluss standen über Wahrheit und Gerechtigkeit.

Es ist ein Dokument von historischer Brisanz – ein juristisches Kunstprodukt, das bis heute die Vorstellung davon erschüttert, was Strafverfolgung in einem demokratischen Rechtsstaat leisten darf – und was nicht. Am 24. September 2007 unterzeichnete Jeffrey Epstein ein sogenanntes Non-Prosecution Agreement (NPA) mit der Bundesstaatsanwaltschaft im Southern District of Florida. Die 7-seitige Vereinbarung, abgeschlossen unter der Aufsicht von US-Staatsanwalt Alexander Acosta, enthielt nicht nur außergewöhnliche Zugeständnisse an Epstein selbst – sondern auch Schutzklauseln für seine mutmaßlichen Mitverschwörerinnen. Schon auf der ersten Seite wird deutlich, worum es eigentlich ging: Das FBI und das U.S. Attorney’s Office beschuldigten Epstein unter anderem, mit weiteren bekannten und unbekannten Personen eine Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten begangen zu haben – mit dem Ziel, minderjährige Mädchen interstaatlich zur Prostitution zu verführen. Wörtlich heißt es: „… knowingly and willfully conspired with others […] to persuade, induce, or entice minor girls to engage in prostitution in violation of Title 18 U.S.C. § 2422(b).“ Dennoch wurde die gesamte Bundesuntersuchung eingestellt – zugunsten eines Deals mit der Staatsanwaltschaft von Palm Beach County. Das Abkommen enthielt ausdrücklich die Formulierung, dass keine Anklage gegen Epstein erhoben werde, solange er sich an bestimmte Bedingungen hält. Eine dieser Bedingungen bestand darin, dass Epstein sich auf Bundesstaatsebene zu zwei vergleichsweise geringfügigen Delikten schuldig bekennen sollte: Anstiftung zur Prostitution und Anstiftung Minderjähriger zur Prostitution. Die daraus resultierende Strafe: 18 Monate Gefängnis, von denen er nur 13 verbüßte – teilweise im Freigang. Der vielleicht empörendste Punkt findet sich auf Seite 5: Die US-Regierung erklärte sich ausdrücklich bereit, keine Anklage gegen mögliche Mitverschwörer:innen Epsteins zu erheben – namentlich genannt werden Sarah Kellen, Adriana Ross, Lesley Groff und Nadia Marcinkova. Dies ist eine außergewöhnliche Klausel, die juristisch nahezu beispiellos ist.

Das Abkommen wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Die Bundesstaatsanwaltschaft verpflichtete sich sogar, Epstein bei einer etwaigen Offenlegung – etwa durch das Informationsfreiheitsgesetz – vorher zu informieren. Die Opfer, also die damals minderjährigen Mädchen, wurden über den Abschluss dieses Abkommens nicht informiert – ein klarer Verstoß gegen den „Crime Victims’ Rights Act“ der Vereinigten Staaten. Ein Bundesgericht stellte 2019 fest, dass ihre Rechte verletzt wurden, doch das Abkommen konnte juristisch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Epstein war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Besonders schwer wiegt auch der Passus, dass alle laufenden Grand-Jury-Vorladungen mit Unterzeichnung des Abkommens ausgesetzt wurden – samt der Pflicht, bestimmte Computerausrüstung und Beweismittel unversehrt aufzubewahren. Dies schützte Epstein und sein Umfeld vor weiteren Einblicken in ihre Aktivitäten. Epstein wurde zudem gestattet, sich selbst zur Haft zu stellen – erst Monate nach der Urteilsverkündung. Der Zeitpunkt der Urteilsverkündung wurde eigens auf seinen Wunsch verschoben. Die Strafverfolgungsbehörden erklärten sich bereit, eine Liste der Opfer an Epsteins Anwälte zu übermitteln. Epstein wiederum durfte diese Personen nicht direkt kontaktieren – außer über einen von ihm bezahlten Vertreter. Dieser absurde Mechanismus ermöglichte Epstein letztlich eine gewisse Kontrolle über die Kommunikation mit den Opfern. Schließlich verzichtete Epstein im Vorfeld auch auf sein Recht, im Falle neuer Anklagen durch eine Grand Jury angeklagt zu werden. Selbst wenn das Abkommen gebrochen würde, sollte eine bloße „Information“ durch die Staatsanwaltschaft ausreichen – ein weiterer Schutzmechanismus zugunsten des Angeklagten.

Juristisch gesehen stellt dieses Abkommen ein Paradebeispiel für ein sogenanntes Deferred Prosecution Agreement dar – mit dem Unterschied, dass hier nicht nur der Hauptbeschuldigte, sondern auch dessen gesamtes mutmaßliches Netzwerk geschützt wurde. Das Dokument belegt auf erschütternde Weise, wie eine Reihe einflussreicher Männer und Institutionen bereit waren, ihre Macht zu nutzen, um einen Sexualstraftäter zu schonen – auf Kosten der Gerechtigkeit und der Opfer.


Die Rückkehr des Deals – Ghislaine Maxwell, das Non-Prosecution Agreement und der vielleicht gefährlichste Präzedenzfall der US-Justiz


Wie wir in unseren Recherchen erfahren haben versucht Maxwell nun auf den gleichen Zug aufzuspringen. Es war das am meisten kritisierte Abkommen der jüngeren amerikanischen Rechtsgeschichte – eine geheime Absprache zwischen einem milliardenschweren Sexualstraftäter und einer US-Staatsanwaltschaft, abgeschlossen im Schatten der Gerechtigkeit. Und nun, fast zwei Jahrzehnte später, will Ghislaine Maxwell diesen Deal zu ihrem eigenen Rettungsanker machen. Die Mitverschwörerin Jeffrey Epsteins, verurteilt wegen Menschenhandels an Minderjährigen, bittet den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, ihre Verurteilung aufzuheben – mit Verweis auf ein Abkommen, das nicht sie unterzeichnet hat, von dem sie aber glaubt, dass es sie schützt. Maxwells Anwälte argumentieren, dass das sogenannte Non-Prosecution Agreement, das Epstein 2007 mit dem US-Staatsanwalt im Southern District of Florida geschlossen hatte, ihr vollständige Immunität verleiht – auch gegen spätere Anklagen in New York. Der Deal enthielt eben die Klausel, wonach die US-Regierung keine Strafverfolgung gegen „potenzielle Mitverschwörer“ einleiten werde, namentlich einige von Epsteins Assistentinnen. Maxwell war darin nicht erwähnt. Und doch sieht sie sich durch genau diese Formulierung nun gedeckt. Der Fall liegt inzwischen beim Supreme Court unter dem Aktenzeichen 24-1073. Die Frage, die sich nun stellt, geht weit über Maxwell hinaus: Kann ein einzelner Bundesstaatsanwalt mit einem verborgenen Deal eine landesweite Schutzwirkung für Dritte erzeugen – und damit die Justiz ganzer Staaten aushebeln? Die Argumentation der Verteidigung stützt sich auf ein einziges Wort: „United States“. In dem Abkommen heißt es, die Vereinigten Staaten würden keine Anklage gegen Epsteins Mitverschwörer erheben. Maxwell will daraus eine generelle, bundesweit gültige Zusicherung ableiten. Doch das Justizministerium widerspricht entschieden. Die Formulierung sei im damaligen Kontext eindeutig synonym mit dem Büro des US-Staatsanwalts in Südflorida zu verstehen – nicht mit der gesamten Bundesregierung. Was Maxwell fordert, ist weit mehr als ein erneuter Prozess. Sie verlangt eine Neuinterpretation dessen, was Non-Prosecution Agreements überhaupt bedeuten dürfen. Würde der Supreme Court ihrem Antrag stattgeben, würde das bedeuten: Ein regionaler Staatsanwalt kann künftig in geheimer Absprache nicht nur einen Angeklagten, sondern auch dessen gesamtes Netzwerk vor jeglicher Strafverfolgung im ganzen Land schützen – ohne dass andere Bundesstaatsanwaltschaften jemals davon erfahren müssen. Das Justizministerium warnt vor den Konsequenzen. Solche „globalen Immunitätsklauseln“ unterlaufen jede föderale Kontrolle und hebeln das Gleichgewicht zwischen den 94 Bundesbezirken aus. Maxwell nun auf dieser Grundlage freizusprechen, würde den Irrtum von damals in ein rechtskräftiges Prinzip verwandeln. Besonders perfide wirkt dabei die Asymmetrie: Epstein selbst wurde 2019 erneut angeklagt – von genau jener Behörde in New York, die Maxwell später zur Rechenschaft zog. Doch hätte das Non-Prosecution Agreement tatsächlich die von Maxwell behauptete Reichweite, dann wäre ausgerechnet sie gegen solche Anklagen immun gewesen – obwohl Epstein es nicht war. Dass ein Abkommen dem Mitverschwörer mehr Schutz bieten soll als dem Haupttäter selbst, widerspricht jeder Logik. Ein weiterer Punkt wiegt schwer: Maxwell war nie Partei dieses Abkommens. Das NPA wurde zwischen Epstein und der Staatsanwaltschaft Floridas geschlossen – Maxwell war nicht beteiligt. Im Vertragsrecht gilt: Nur wer ausdrücklich als Begünstigte genannt wird oder für wen die Vertragspartner eine Schutzwirkung beabsichtigten, kann daraus Rechte ableiten. Doch die damalige Bundesanwaltschaft wusste zum Zeitpunkt des Abschlusses nicht einmal von Maxwells konkreter Rolle im Missbrauchssystem. Sie war nicht Teil der Ermittlungen, nicht Teil der Verhandlungen – und wurde nie erwähnt. Selbst wenn man unterstellen würde, dass die Klausel Mitverschwörer schützen sollte – sie war und ist zu unbestimmt, um daraus konkrete Rechte für eine Dritte wie Maxwell abzuleiten. Das sehen auch mehrere Bundesgerichte so: Das Abkommen sei „kein globales Schutzschild“, es entfalte keine Wirkung außerhalb seines klar umrissenen Geltungsbereichs – geographisch wie personell. Auch formell ist fraglich, ob der Fall überhaupt geeignet ist, vom Supreme Court entschieden zu werden. Die Vorinstanzen – sowohl das Bezirksgericht als auch das Berufungsgericht – sind sich einig: Das Abkommen schützt Maxwell nicht. Und anders als in anderen Fällen, in denen mehrere Bundesgerichte in derselben Frage zu gegensätzlichen Ergebnissen kommen, liegt hier keine offene Streitfrage zwischen den Bezirken vor. Der Fall sei, so das Justizministerium, kein Grundsatzfall – sondern ein Einzelfall, rechtlich eindeutig und längst entschieden.

Und doch steht der Fall nun auf der Liste der anhängigen Verfahren. Der Supreme Court könnte ein Exempel statuieren – und klären, ob Deals wie jener von Epstein auch dann Schutz entfalten, wenn sie im Geheimen abgeschlossen und nie durch das Hauptjustizministerium autorisiert wurden. Es wäre ein gefährlicher Präzedenzfall. Der Name Alexander Acosta ist längst zur Chiffre für ein Justizversagen, und vielleicht viel mehr, unsere Recherchen dazu laufen noch, geworden. Die Entscheidung, Epstein 2007 mit einem Deal zu verschonen, der ihm praktisch Straffreiheit sicherte, hat nicht nur die Opfer verraten, sondern das Vertrauen in die Strafverfolgung erschüttert. Dass nun eine Mitverschwörerin versucht, diesen Fehler zu nutzen, um sich selbst zu retten, lässt die Tragweite dieses Abkommens noch finsterer erscheinen. Dies ist kein gewöhnliches Revisionsverfahren. Es ist der Versuch, ein gescheitertes Stück amerikanischer Justizgeschichte in ein Mittel der Selbstbefreiung umzudeuten – in ein Ticket zur Freiheit für eine Frau, die über Jahre Teil eines Systems des Missbrauchs war. Der Supreme Court wird entscheiden müssen, ob das Recht hier nachträglich wieder zum Werkzeug der Vertuschung wird – oder ob es endlich, wenn auch spät, seine ursprüngliche Funktion erfüllt: Gerechtigkeit. Wer verstehen will, warum Epstein so lange überleben konnte, warum seine Taten systematisch ignoriert wurden, warum Frauen jahrzehntelang um Gerechtigkeit kämpfen mussten, findet die Antwort nicht in den letzten Tagen seines Lebens. Sondern in jenen Memos, Sitzungsprotokollen und Verhandlungspapieren aus dem Jahr 2007. Wer nicht begreift, wie dieser Deal entstand, wird nie verstehen, wie die Justiz versagt hat. Und warum manche Kreise alles daran setzen, dass darüber weiter geschwiegen wird. Wir arbeiten den gesamten Fall auf und lassen nicht mehr locker, und werden es auch in Zukunft nicht tun.

Fortsetzung folgt …

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Henryk Schmiel
Henryk Schmiel
2 Monate zuvor

Erschütternd- wird sicherlich unter den Teppich gekehrt.

Günther Keil
Günther Keil
2 Monate zuvor

Ich möchte Ihnen aufrichtig gratulieren, für diese außergewöhnliche Qualität und Informationsdichte. Genau so stelle ich mir guten Journalismus vor, nicht das, was einem heutzutage allzu oft vorgesetzt wird. Eine großartige Arbeit: ein derart komplexes Thema so gründlich zu recherchieren und in die richtigen Worte zu fassen, verdient meinen höchsten Respekt. Vielen Dank für diese exzellente Leistung.

Silke Friedel
Silke Friedel
2 Monate zuvor

Unfassbar! Täterschutz vom Feinsten, Ich will gar nicht wissen, was da im Hintergrund noch alles gelaufen ist (von Schweigegeldern bis zur Erpressung), damit dieser Deal stattfinden konnte.
Danke, dass ihr da dran bleibt, wenn es offensichtlich sonst niemand tut.
Selbst, wenn der Haupttäter tot ist, ist eine Aufklärung wichtig.
Und es erschreckt mich, dass Frauen dabei helfen, dass Mädchen missbraucht werden.
Wie emotional tot muss man dafür sein?

Ela Gatto
Ela Gatto
1 Monat zuvor
Reply to  Silke Friedel

Leider passiert das sehr oft.
Aus missbrauchten Minderjährigen werden später Täter.

Ingrid Feistner
Ingrid Feistner
1 Monat zuvor
Reply to  Silke Friedel

Missbrauch ist Seelenmord. Die Mittäterinnen sind , wie im Text erwähnt, sowohl frühere Opfer wie auch spätere Täterinnen . Durch die erlittenen Verbrechen sind sie innerlich zerbrochen, abgestorben und zu keiner menschlichen Regung , schon gar kein Mitgefühl , mehr fähig. Das macht sie zu bequemen Komplizinnen.

Ela Gatto
Ela Gatto
1 Monat zuvor

Die Reichen und Mächtigen haben damals ihre Reihen geschlossen und werden es jetzt auch wieder tun.

Der Supreme Court ist nur eine Marionette von Trump.
Gerade bei dem überaus brisanten Fall gehe ich davon aus, dass sie zugunsten von Trump entscheiden werden.

Täterschutz vor Opferschutz
Ein Staatsanwalt kann solch einen Deal aushandeln. Damit ist Korruption doch vorprogrammiert.

Und das jetzt eine abscheulich Täterin vermutlich frei kommt, während die Opfer leiden, ist typischen für eine Autokratie.

Danke für diese unglaublich gute Recherche

Pamela
Pamela
1 Monat zuvor

Ich bin einfach nur entsetzt. Geld regiert die Welt. Was für eine perfide Geschichte. Danke für eure Recherchen und die Artikel dazu. Ich gebe die Hoffnung auf Gerechtigkeit nicht auf!

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